Freitag, 6. März 2015

Der Held

Tatsächlich, Elvira würde das letzte Kapitel schaffen, bis zum Schluss der Fahrt! Es waren ja nur noch zwei Seiten und sie hatte noch eine Stunde bis Gelsenkirchen. Selbstverständlich kann sie auch schneller lesen, aber, wenn sie ein Buch zum zweiten oder auch dritten Mal liest, dann nimmt sie sich die Zeit auf Formulierungen und Redewendungen zu achten. Den Inhalt kennt sie ja schon. So stoppte sie auch, als sie las, dass der Clan in einem Tal "dwelt". Sie schmunzelte bei diesem Wort, das es so ähnlich im Althochdeutschen gibt und das mit den Angeln und Sachsen nach England kam. Es drückt die Weile im wohnen und siedeln mit aus. Der Clan ist dort eben seit ein paar Generationen und könnte weiterziehen. Sie meditierte ein wenig und las dann weiter. Es ging in dem Buch um einen Helden, der eben diesen Clan verteidigt und nun zurückkehrt. Auf der letzten Seite wird beschrieben, dass er seine Liebsten unbeschadet antrifft. An dieser Stelle schaute sie wieder aus dem Fenster und stellte fest, dass von allen Frauen in dem ganzen Buch sie sich in dieser Liebsten des Helden wiederfindet. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, las auch diese Seite zu Ende und fragte sich wen ihre Mutter wohl als Partner ausgesucht hatte.


Zu der Feier kam die halbe Siedlung zusammen. Es war Großvaters achtzigster  und alle waren gekommen, die Großfamilie, die Schützenfreunde und auch vom Gesangsverein kam ein großer Teil. Ihre Mutter hatte einen Sitzplan entworfen, so dass sich nicht direkt beim Essen schon Grüppchen bilden. Und so wurden Tischnachbarn so gesetzt, dass immer Paare zusammen sassen, die sich verstehen und sich untereinander etwas mitteilen könnten. Neben Elvira hatte sie einen gewissen "wäre der nichts für Dich'-Guido platziert. Sie wollte endlich Großmutter werden und ihre Eltern, er würde ja schon 80, wären bestimmt gerne Urgroßeltern. Elvira protestierte nicht und Guido war auch wirklich gut ausgesucht. Genau wie sie hatte er ein Staatsexamen und auch einen Halbmarathon hatte er schon absolviert. Der Aperitif und das folgende Essen brachte auch eine interessante Unterhaltung zu stande. Er las auch viel und schwärmte von seinem Kindle. Besonders praktisch sei es bei englischen Büchern, da ja ein Lexikon mit eingebaut sei. Sie fragte ihn nach den Büchern, die er mehrfach liest, aber er verneinte, ein zweites Mal etwas zu lesen, käme für ihn gar nicht in Frage. Erstaunt schaute sie ihn, dann erzählte sie von den zwei Seiten, die sie im Zug gelesen hat. Von den Formulierungen und wie wunderbar es sich dabei nachdenken liesse. Geduldig hörte er zu. Als sie Luft holte, erzählte er von den Schlachten, die in genau diesem Buch gekämpft wurden. Sie lachte, er hatte ihr Buch auch gelesen! Aber an das Ende der ganzen Geschichte und die Liebste des Helden konnte er sich nicht erinnern. Beim Dessert meinte Elvira, dass Gewalt und Kämpfen aus der Mode gekommen wäre. Seine Antwort darauf machte sie zunächst sprachlos.

"Klar, gehört schlagen auch heute noch dazu" erklärte Guido mit ruhiger Stimme. Sie schaute ihn mit aufgerissenen Augen an. Er wartete geduldig, wie sie zum Weinglas griff, einen Schluck nahm und das Glas wieder absetzte. Auf ihre Bitte das doch genauer zu erklären, führte er aus: "Beim BVB steh ich in Kurve und vor und nach dem Spiel gibt es immer mal wieder Remmidemmi. Mit meinen Kumpels hauen wir dann nicht ab, sondern eher drauf". Er grinste. Sie hätte ihm das gar nicht zugetraut und fragte ihn, ob er denn hier bei Gelsenkirchen glücklich sein könne. "Ach, ist doch nur, wenn gerade Spiel ist und in der Szene kennt man sich. Hier der Willi ist bei Schalke. Ist doch wahr, Du bist bei den blau-weissen Affen, Willi" brüllte er schräg über den Tisch. Der Angesprochene brüllte zurück: "Pass ja auf, ich komm dir gleich", bevor beide sich kaputtlachten. Elvira lachte mit. Dann wurde ihr bewusst, wie seltsam das wahr. Ein studierter Büromensch prügelte sich samstags im Stadion. So zum Spaß. Sie schaute ihn noch einmal an. Er sah annehmbar aus. Sie konnte sich mit ihm gut unterhalten. Er lief und wusste sich auch richtig männlich zu prügeln. Ihr imponierte es ein ganz klein wenig und genau das hätte sie nicht von sich erwartet.

Nach dem Essen gab es verschiedene Ehrungen und es verteilten sich die arrangierten Tische. So gingen Männer zu Männern, Frauen zu Frauen und Familien, die sich lange nicht gesehen  hatten, hielten Konferenzen ab. Elvira fand sich neben ihrer Oma wieder. Oma erzählte vom Leben in der Siedlung und Elvira von München. Nach etwa einem Glas Wein kam das Thema auf Urenkel, die schon schön wären. Aber da müsste ja zunächst etwas männliches her. Elvira erzählte von ihrer Sehnsucht nach einem richtigen, tapferen Mann, der sie vor Gefahren schützen würde. Der aber dann so anders wäre, wie die modernen Männer. Hatte es solche früher gegeben?
Oma meinte: "Mein Wilfried kommt dem schon ziemlich nahe." Elvira riss die Augen auf. Sie griff nach dem Weinglas, nahm einen Schluck und fragte dann: "Wie? Der Opa?"
Oma erzählte dann: "Du kennst die Geschichte nicht, wie ich ihn kennenlernte?" Sie schüttelte mit dem Kopf. "Wir haben uns in Duisburg kennengelernt, er studierte Ingenieur und ich Lehrerin. Und stell Dir vor," Oma tippte auf ihre Hand, "neben dem Wohnheim für Studentinnen, wo ich wohnte, da so zwei, drei Häuser weiter die Strasse hinunter war eine Kneipe. Zuerst ganz harmlos. Aber dann wurde die Kneipe immer mehr zu einem Puff! So ein richtiger Puff! Und die Luden schauten immer nach neuen Mädchen. Da konntest Du gar nicht abends nach Hause gehen. Schon gar nicht alleine. Und Wilfried hat mit seinen Jungs da richtig aufgeräumt. "
"Nicht wahr?"
"Die sind mit Dachlatten in die Kneipe, haben denen gesagt, dass nun Schluß ist. Es gab dann eine Riesenkeilerei. Dann war da Ruhe."
"Und Polizei? Kam da nichts?"
"Die Polizei hat das wohl gewusst, aber fand das dann auch einfacher, wenn das so die Anwohner unter sich regeln. Ich war so stolz auf ihn." Sie winkte ihrem Mann zu, der an der anderen Seite des Tisches war.

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