Freitag, 8. April 2016

Der schwarze Hut

Den schwarzen, kleinen Hut oder die grauen Baskenmütze? Er war unschlüssig, welche Kopfbedeckung besser passen würde. Immerhin ging es ja um die letzte und damit wichtigste Prüfung seiner Ausbildung. Die graue Baskenmütze probierte er als erstes aus. Sie war eine Erinnerung an vergessene Zeiten, als er noch einen Walrossbart trug. Der prüfende Blick im Spiegel machte ihm klar, das ging gar nicht mit dem gepflegten, schwarzen Vollbart. Dann also doch der schwarze Hut! Hier sah der Pferdeschwanz gar nicht passend aus.
"Mit einer rasierte Glatze, wenn schon Vollbart" erkannte auch Sabine, seine Mitbewohnerin, die im Bademantel aus dem Badezimmer kam.
"Da habe ich noch etwas, schau mal" entgegnete er und winkte mit einem Tottenham Fanschal. "Habe ich vom Abiturausflug nach England mitgebracht. Das wird ein richtiger Hingucker, meinst Du nicht? Das Farbmuster von Tottenham kennt hier keiner, ist aber Fußball und Pferdeschwanz passt genau so wenig zu schwarzem Hut." grinste er.
Seine Mitbewohnerin nickte zustimmend, gab ihm zum Abschied weder einen Kuss auf die Wange und noch einen auf dem Mund. Auch umarmte sie ihn nicht. Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern als er zur Tür herausging.
"Du schaffst das schon" rief sie ihm hinterher.
Er schaffte den Weg bis zur Tür des Instituts ganz ohne in Schwierigkeiten zu kommen. Zwar war von der U-Bahnhaltestelle bis zum Institut ein gemischter Fuß- und Radweg zu bewältigen, der hinter einer Siedlung von Sozialbauten verlief. Um diese Zeit war wenig los, seine Mitprüflinge hatten wohl andere Wege genommen. Er ging den Weg ganz alleine, mit seinem schwarzen Hut und der Umhängetasche. In der Mitte des Weges teilte sich dieser in einen Fußweg links und einen Radweg rechts. Am Anfang des Fußwegs war eine Bank mit einer um diese Zeit schon fröhlichen Gruppe junger Männer. Von weitem sah er sie schon und behielt seinen Weg auf dem Fußweg bei. Sie würden ihm schon Platz machen, wenn sie ihn sähen, nahm er an. Als er einige Schritte vor der Gabelung war, sah einer von ihnen kurz in seine Richtung, machte den Weg aber nicht frei, sondern drehte ihm den Rücken zu, so dass er dann am linken Rand des Weges stand. Zwischen ihm und der Bank stand ein Bierkasten. Auf der Bank saßen die Freunde dieses Rüpels. Weder wurden seine Schritte langsamer, noch dachte er unsicher nach, als ihm bewusst wurde, dass es nun einen Slalom auf dem Fußweg vor sich hatte. An der Gabelung nahm er den Radweg. Für diese Entscheidung Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, feierte er sich nicht. Er schämte sich auch nicht deswegen. Diesmal kam er einfach nur an der rechten Tür Instituts an.

Sie fiel ihm direkt auf. Nachdem er dem Pfeil mit der Aufschrift "Klausur" folgte und er den Vorraum, in dem die Mitprüflinge warteten, erreichte, sah er sie. Es war eine original Cola-Dose mit Zucker, die sie zum Mund führte. Sie nahm einen Schluck, schloss die Augen und genoss den Geschmack. Mit einem breiten Lächeln öffnete sie ihren Erdbeermund und zeigte ihre weißen Zähne. Solch einen Mund sollte seine Traumfrau haben, dachte er sich, als er das Mädchen aufmerksam musterte. Wenn er die Prüfung bestehen sollte, musste er sich auf die Suche nach einer Partnerin begeben. So sammelte er schon seit einiger Zeit Merkmale von weiblichen Wesen, nach denen er dann in diversen Portalen stöbern wollte. Dieses Mädchen machte ihm die Bedeutung des Merkmales 'Erdbeermund' bewusst. Die ihm schon vertraute Bedeutung des Merkmals 'blonde Helmfrisur' bestätigte sie. Die blonden Haare der Cola Trinkerin waren in der Mitte gescheitelt und bedeckten gerade die Ohren und den Hals. Sie waren nach innen gelockt, so dass der Eindruck entstand, sie trüge einen Helm aus Haaren. Wenn sie die Mutter seiner Kinder werden würde, könnte sie zunehmen und ihre Frisur würde den gleichen Eindruck machen.
Sie beachtete ihn überhaupt nicht. Er zeigte auch keinerlei Balzverhalten. Sie nahm noch einen Schluck aus der Cola-Dose genommen hatte und schloss wieder ihre Augen. Dabei öffnete sie wieder ihren roten Erdbeermund. In diesem Moment bemerkte er ein dringliches Gefühl im Unterleib. Wenig später stand er vor dem Urinal und fragte sich, nachdem die paar Spritzer nicht für die Erleichterung gesorgt hatten, ob er wohl noch Zeit hätte sich mit seinem Smartphone zurück zu ziehen.

Er kam zur Prüfung ein klein wenig zu spät. Leise öffnete er die Tür, vorne an der Tafel wurden die Regeln erläutert. Wie immer war nur ein nicht programmierbarer Taschenrechner zugelassen. Die Matrikelnummer und der Name sollte eingetragen werden. Weiter waren sie noch nicht gekommen. Er setzte sich in die drittletzte Reihe an den Rand. Zuerst legte er die Umhängetasche auf den Sitz daneben. Das Mäppchen mit den Stiften und dem Studentenausweis holte er als erstes heraus, dann kam sein kleiner, knuffiger Glücksteddy ohne den er nie eine Arbeit schreiben würde. Diesen stellte ganz auf die rechte Seite des Tischchens. Den Taschenrechner holte er als letztes heraus. Die Jacke faltete er zusammen und legte sie auf die Tasche. Auf diese drapierte er seinen Hut.
Als er saß, wurden schon die Bögen von den Hilfskräften verteilt. Während er auf seine Bogen wartete, streichelte er seinen Teddy.

"Die Klausur beginnt jetzt, Sie haben 90 Minuten Zeit, viel Glück!"
Er drehte die Seiten um und trug als erstes seinen Namen und seine Matrikel oben ein. Das war schon einmal geschafft! Es war ja immer wichtig, bei einer Klausur mit etwas anzufangen, dass garantiert richtig war. Es gab dann schon einmal ein positives Gefühl.
Da fiel sein Blick auf die erste Aufgabe. Was war das? Er verstand gar nicht worum es dort ging. Langsam wanderten seine Augen auf die Titelzeile. "Multivariate Statistik" stand an der Stelle, an der "Statistik I" stehen sollte. Er schaute kurz nach vorne zur Tafel. Dort stand auch "Multivariate Statistik". Er zeigte keinerlei Emotion. Weder fluchte er noch traten ihm Tränen in die Augen. Seine Lippe zitterte nicht, als er ruhig aufstand, sich den schwarzen Hut aufsetzte und die Jacke von der Tasche nahm. Zuerst zog diese leise an, dann verstaute er die Stifte in das Mäppchen. Er füllte seine Umhängetasche und verließ auf leisen Sohlen den Saal. Die Tür warf er nicht zu.

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