Freitag, 29. April 2016

Der blaue Faden

"Hallo" sagte sie leise zu dem bleichen Gesicht, das vor ihr auftauchte.
Es antwortete nicht. Dafür lachten ihre Freundinnen, Bijula rief: "Njajala, will wieder Gespenster suchen"
"Gespenster gibt eigentlich nur in der Nacht, aber das hier ..." Es war weg. Sie ging noch ein paar Schritte mit der Mädchengruppe weiter, dann blieb sie stehen. Sie musste ihre Erscheinung genauer anschauen. "Geht nur schon vor, ich komme dann nach."
"Mach was Du willst. Lass Dir halt eine gute Geschichte einfallen, wenn Du nicht mit uns beim Fluss bist"
Sie ging die Schritte wieder zurück, atmete ein und dachte hinter der Stirn 'Gesicht, Gesicht, ich habe Dich gesehen'
Das bleiche Gesicht erschien wieder und in ihrem Kopf formte sich 'Scheiße'.
Sie musste lachen. Das Gesicht zog die Augenbrauen zusammen.
'Was soll Scheiße sein?' dachte sie hinter ihrer Stirn.
'Du bist nicht echt!' formte sich in ihrem Kopf, dann bewegten sich die Lippen des Gesichts. Das Gesicht bewegte sich von ihr weg.
'Bleib doch! Wir reden ohne Lippen. Mit Worten hinter der Stirn, weißt Du das denn nicht?' dachte sie.
Sie sah es wieder. Nun war es ganz deutlich zu sehen.
'Ok, Also ich habe nun eine Vision, mit der ich durch Wörter, die ich hinter meiner Stirn forme ...'
'Genau so ist es. Toll nicht wahr? Meine Oma hat mir davon erzählt.'
'Bitte? Warum bilde ich mir ein schwarzes, kleines Rastamädchen mit Oma ein?'
'Was meinst Du mit bilde ... ein?'
'Das ist eine Erbkrankheit. Meine Tante hat das auch. Da macht dann einfach ... Ich erkläre meiner Einbildung, das sie eine Einbildung ist ... Ich bin total verrückt drauf ... Also die Tante Marianne hatte ja Lähmungserscheinungen bei ihren Anfällen ... Bei mir ist nichts gelähmt, oder ...Wie stelle ich das nun fest ...'
'Ich bin keine Einbildung' sie stampfte mit dem Fuß auf.
'Ach nee' Der junge Mann war ganz deutlich zu sehen. Er hatte seltsam helle Haut. Seine Kleidung war seltsam. Die Hose war ganz lang und aus dickem, blauen Stoff. Seine Sandalen waren oben ganz zusammen gebunden. Sie schaute wieder von unten nach oben und blieb bei seinen blauen Augen hängen.
'Du wärst genau richtig für meinen Erstling. Was kann ich für Dich tun?' fasste sie ihren Eindruck zusammen.
'Bitte was?  ... Was für ein Blödsinn!.. Ich habe das doch gewusst... Mein Ego baut sich ein kleine, schwarze Jungfrau, die nicht erwarten kann, dass ich es ihr besorge ... Ich bin ja so etwas von versaut ... Scheisse!'
Ihre Erscheinung nahm eine Entwicklung, die sie so nicht kannte. Es war ja auch das erste Mal, dass das mit dem Übertragen der Gedanken überhaupt funktionierte. Hatte ihre Oma also nicht geflunkert. Was konnte sie noch mit einem Gespenst anstellen?
'Du scheinst ja ziemlich echt zu sein .. ich berühr Dich mal' Sie legte ihre Hand auf den Bauch des jungen Manns. In der Tat fühlte sie einen Stoff und dahinter war etwas echtes.
'Ups, und hier auch ... fühlst Du das?' Sie griff ihm zwischen seine Beine.
'Das wird tatsächlich hart, toll!' Sie bewunderte die Ausbeulung in seiner Hose.
'Phantasien haben immer mit Sex zu tun ... wusste ich das doch. Ich sollte wirklich mal wieder eine Schnecke abschleppen ... Lass das'
Seine Hand schob ihre Hand weg. So etwas hatte ihre Oma gar nicht erzählt. Gespenster sollten gesehen und gehört werden. Sie wurden gerufen, wenn man etwas zum erzählen suchte. Manchmal gaben sie auch einen Rat bei Problemen. Aber so richtig körperlich wurde das nie. Obwohl? Die Oma war ja schon lustig. 
Sie schaute den jungen Mann an. Er hatte nun richtige rote Bäckchen.
'Wenn Du echt sein solltest, kannst Du dann nicht hier bei meinem Kumpel etwas machen? Das kann dann ja keine Einbildung mehr sein, wenn der dich auch spürt, oder?'
'Ich sehe deinen Kumpel nicht, nur Dich.' Sie schaute sich um. Da sah sie etwas. 'Hier? Das dort?' Es erschien ein schwebender Torso neben dem bleichen Mann. Nur der Unterkörper mit den Oberschenkeln war zu sehen.
'Genau dort steht der Joey. Wenn er etwas fühlt, weiß ich, dass Du echt bist'
Sie grinste und überlegte kurz, was sie mit ihm machen sollte. Dann holte sie mit dem rechten Fuß aus und trat kräftig zu. Der Torso ging nach hinten und verschwand. Auch der bleiche Mann war verschwunden. 

Was wollte ihr dieses Erlebnis mitteilen? Irgendeine Botschaft sollte sie am Abend im Kreis der Frauen erzählen. Etwas sinnvolles war nicht so richtig dabei. Zwar konnte sie Gespenster sehen und rufen, aber diese hatten ihr nichts erzählt was wichtig war. Aber vielleicht ja später, wenn sie eine richtige Frau wäre, könnte sie die Gespenster ja einmal fragen. Es war wirklich schon Zeit, dass sie einen Erstling bekäme.

In ihre Überlegungen platzte der bleiche Mann wieder. Ganz ungefragt erschien er.
'Halt warte! Joey musste ich doch erst versorgen. Der glaubt er hätte einen Hodenkrebs. Wenn der wüsste. Ich habe genau gesehen, was Du gemacht hast. Du bist wohl eine Art Troll oder so? Ich hätte ja nie gedacht, dass so etwas überhaupt möglich ist ...'
'Das reicht nun. Vielen Dank für Deine Erscheinung. Wenn ich demnächst etwas von Dir möchte, dann komme ich wieder. Es hat mich gefreut, mach es gut.' Sie drehte sich um und wollte gehen.

Sie konnte nicht gehen. Er zog sie an ihren Rastazöpfen. Das war keine Erscheinung mehr.
'Ich lass Dich nicht so einfach weggehen!'
Sie fühlte seine Hand auf ihrer Schulter. Das war nicht richtig! Irgendwie musste sie doch dort wegkommen. Mit ihren Ellbogen schlug sie nach hinten, ihre Haare taten ihr weh. Sie geriet in Panik und ihr wurde schwarz vor Augen.

"Njajala! Aufwachen" Bijula schüttelte sie. Ihre Freundinnen hatten sie gefunden. Alles war wieder gut. Am Knie hatte sie wohl geblutet, aber es tat gar nicht mehr weh.
Strahlend erzählte sie von ihrem Erlebnis mit den Gespenstern.
"Das habe ich noch nie so gehört, was mir mit den Gespenstern passiert ist. Normal sind die ja immer nur so Erscheinungen und undeutlich. Und es ist mehr so unwirklich. Aber das nun war ganz anders. Die scheinen ein ganz eigenes Leben zu haben. Sie sind wie richtige Menschen. Nur ganz bleich. Und irgendwie ..."
"Was hast Du da hinten in dem Zopf?" fragte Bijula und zog an ihrem Zopf ganz hinten. "Seht mal her, das habe ich noch nie gesehen. Woher hast Du solch einen Faden? Ganz Blau? Wie hast Du den da hinein geflochten?"
"Das war ich nicht."

'Ihr seid auch wie richtige Menschen. Nur schwarz' formte sich in ihrem Kopf.

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