Freitag, 19. Dezember 2014

Blondes Gift

Sie hat ihn nicht angelächelt. Noch nicht einmal so richtig bemerkt hatte sie ihn. Er hat ja auch nichts gemacht, nur so aus den Augenwinkeln ihren Anblick ganz kurz wahrgenommen. Aber er hatte auch kein Interesse daran immer wieder dieselbe Art von Frau anzubaggern. Eigentlich würde sie gut in sein Beuteschema passen. Blonde Haare gefallen ihm immer ganz gut und ihre waren nicht glatt und auch nicht lockig, sondern so wie ein kleiner Helm. Gerade so wie es ihm gefällt. Auch ihr Mund war zwar rot geschminkt, aber nicht so aufdringlich grell, sondern so gerade richtig. Trotzdem ignorierte er sie, schaute nach unten zu seinen Schuhen. Er atmete ein, er atmete aus und ließ die Episoden mit den verschiedenen Blondinen in seinem Leben Revue passieren. Einfach einmal Gelegenheiten nicht wahrnehmen, einfach einmal sich heraushalten! Es kam ihm vernünftig vor. Als die Straßenbahn hielt, sprang er auf und nahm gar nicht war, dass sie den gleichen Weg nahm.


Bei der Kantine war er ein wenig später als sonst, aber seine Leute waren an der erwarteten Stelle und er setzte sich zu ihnen. Das Gespräch drehte sich um den BVB, der hatte nur 1:1 gespielt, aber trotzdem konnten sich alle über den teuren Mittelstürmer freuen. Vielleicht würde es nun mit der Wende klappen! Nicht, dass er sich besonders für Fußball interessieren würde, es war aber ein Thema bei dem alle Kollegen immer etwas zu sagen haben. So konnte er auch, ohne viel Aufmerksamkeit zu verschwenden, etwas zur Unterhaltung beitragen und dabei trotzdem distanziert bleiben. Gerade hatte er das tiroler Gröstel hinter sich gebracht, als ihm zwischen dem Kopf von Klaus und Erwin, drei Reihen entfernt ein blonder Haarschopf auffiel. Sie hatte ihren Schal abgelegt und er konnte ihren hübschen Hals bewundern. In der Straßenbahn war ihm dieser gar nicht so aufgefallen. "Der BVB steigt nicht ab, nie!" warf er ein. Die Kollegen stimmten zu und der Pudding aus dem Chemiewerk schmeckte wie üblich. Anderen gab es einfach nicht. Er machte den Spaziergang um den Betrieb nicht mit und ging alleine an seinen Platz zurück.

Nach der Mittagspause widmete er sich seinen Forschungsthemen. Warum hätte er sonst als Post Doktor am Institut anfangen sollen? Am liebsten war ihm das Nachdenken über interessante Gesichtspunkte, sowie das Lesen und Stöbern in den Veröffentlichungen von anderen. Das Nachdenken funktioniert am besten nach dem Essen und mit geschlossenen Augen! Zu seinem Entsetzen fand er in seinem Eingangfach drei Umschläge von der Art, die nach unangenehmer Arbeit rief. Es waren Biopsien, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Normalerweise werden die automatisch miskroskopiert und, wenn die Diagnose eindeutig ist, kommen die gar nicht zum wissenschaftlichen Personal. Nun hatte es ihn getroffen. Dann eben erst ein Power Nap, gefolgt von der Bearbeitung der e-Mails und danach dann mit den drei Umschlägen hinunter ins Labor. Er legte die drei Umschläge vor sich hin, auf dem zweiten stand ein seltsam bekannter Name "Wernicke". Über das Syndrom wurde er im Hauptstudium geprüft und nun war ein Verwandter des Entdeckers in Krebsgefahr. Kurz bewegten sich seine Augenbrauen nach oben, dann öffnete er die Umschläge, entnahm die Proben, machte die Abstriche auf Objektträger und legte alles auf den Tisch. Das war dann schon einmal die Handarbeit. Dann kam seine eigentliche, qualifizierte Arbeit, das Betrachten der Objektträger durch das Mikroskop, gefolgt vom Übertragen der Daten samt Diagnose in den Rechner. War der erste Abstrich ein falscher Alarm, bot sich beim zweiten Abstrich durch das Mikroskop ein seltsamer Anblick. Es war wie ein Umriss dieser interessanten, blonden Frau. Wenn er genau hinsah, konnte er sie im Profil erkennen, der etwas längere Hals, die helmartige Frisur. Verblüfft schaute er auf und wollte sich kaputtlachen, als er dann doch tatsächlich eine Art Erregung bemerkte, die er geschwindt durch einen Besuch auf der Toilette in eine Erleichterung zu transformieren gedachte. Er sprang so schnell auf, dass die Umschläge beim Öffnen der Tür kurz hochflogen.  Nach einer kurzen Weile kam er lächelnd und fragte sich kurz welcher der beiden verbliebenen Umschläge das wohl sein mochte, immerhin handelte es sich ja um eine Verformung. Sicher traf er eine Entscheidung und machte dann mit der dritten Probe weiter. Es war wieder ein falscher Alarm, den er auch sofort eintrug.

Oben in seinem Büro fragte er sich kurz, ob er nicht doch die Proben vertauscht hätte. Aber so etwas kam ja nun gar nicht in Frage, Eingetragen ist Eingetragen und nun auf zum öffentlichen und vielleicht recht privatem Nahverkehr. Die Kleine war im gleichen Wagen gekommen und sollte vielleicht auch mit der gleichen Bahn zurückfahren. Aber auch egal, ob er sie wieder träfe, es gibt ja noch mehr von diesen Frauen, die ihm den vielleicht doch liebsten Zeitvertreib bescheren könnten. Ja, sein Leben als gut verdienender und dabei auch hoch angesehen Doktor der Histologie gefiel ihm ausgesprochen gut.

Am nächsten Tag ging Frau Wernicke zu ihrem Briefkasten im Erdgeschoss. Es war ein Ritual, dass die Rentnerin auch nach dem Tod ihres Mannes nicht abgelegt hatte. Um 10 Uhr Post holen, einen Tee kochen  und dann gemütlich am Küchentisch die Korrespondenz durchsehen. Er hatte immer zuerst die Briefe gelesen, während sie sich mehr um die Prospekte kümmerte. Diesmal fand sie zwischen den Prospekten einen grauen Umschlag, oben links stand "Onkologisches Labor". Nachdenklich schaute sie ihn an, dann erinnerte sie sich an ihren Hautarzt. Es ging um den Blutschwamm, der sich an ihrem Ellbogen gebildet hatte. So etwas hatte sie öfters, aber diesmal meinte ihr Arzt eine Untersuchung wäre in ihrem Alter doch angebracht. Es wäre ja nur eine kleine Probe des sowieso schon entfernten Schwamms zur Untersuchung zu schicken. Die Kasse würde das bezahlen und sie bräuchte auch nicht noch einmal den Weg durch die Stadt zu machen. Das Schreiben würde direkt zu ihrer Adresse geschickt. Meistens wäre es ja harmlos und würde dann auch von ihr zu verstehen sein. Nur wenn dort stünde, dass da ein Verdacht wäre, sollte sie schon sofort kommen. Mit Krebs spasst man nicht! Eigentlich wollte sie heute ja noch zu ihrer Tochter aufbrechen, immerhin kommt der zweite Enkel bald und da würde jede Hilfe gebraucht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen