Freitag, 17. Juni 2016

Der Schatz

Die Schüler waren schon alle weg.
Der junge Mann mit den strohblonden Haaren hätte sich den Weg zum Bahnhof auch einfach schenken können. Um zehn nach acht stieg hier normalerweise keiner seiner Kunden mehr aus. Eher aus Gewohnheit wartete er noch die nächste Bahn ab. Der Waggon war spärlich besetzt. Trotzdem öffnete sich eine Tür und, ehe er sich versah, drückte ihm eine Gestalt eine Tasche in die Hand. "Prima, dass Du schon da bist. Bis nächste Woche dann." sagte sie, bevor sie wieder einstieg. Niemand sonst stieg aus.
Er stand alleine auf dem Bahnsteig mit einer blauen Strandtasche. Eine knallig gelbe Sonne mit dicken, ebenso gelben Sonnenstrahlen war auf jeder Seite. Etwas von einer Solarmesse stand darauf, aber das beachtete er gar nicht. Ein Paket war in dieser Tasche. Neugierig betrachtete er es. Kurz zuckte er mit den Schultern, dann ging er unschlüssig zum Ende des Bahnsteigs zur Rolltreppe. Bei dem Fahrstuhl blieb er kurz stehen. Er dachte angestrengt nach. Die Tasche war nicht für ihn. Der Eigentümer würde diese demnächst suchen. Noch einmal schaute er in die Tasche hinein. Es war nur ein Paket drinnen. Schnell schaute er sich um, dann nahm er das Paket unter dem Arm und stopfte die leere Tasche in den Papierkorb. Kaum hatte er den Bahnsteig verlassen, trat ein junger Mann mit ähnlichen blonden Haaren aus dem Fahrstuhl.
"Das ist richtig gutes Zeug. Knallt gut. Pro Tüte biete ich so etwas für 10 € an. Was gibst Du mir dafür? Da kann man ein paar hundert Tüten draus machen, das sind ..."
"Zu viel für Dich und eigentlich auch zuviel für mich. Wie bist Du daran gekommen?"
"Gefunden. Teilen wir?"
"Wie teilen?"
"Das ist doch jede Menge Kohle wert. Die Hälfte für Dich, die andere für mich. OK?"
Der Chinese lachte scheppernd. "Das ist nur jede Menge Kohle, wenn Du das auch verkaufst. Viel Spaß damit. Aber Du verkaufst doch für diesen Wassili, nicht wahr?"
"Äh, ja"
"Der wird sich wundern, wenn Du weniger für ihn verkaufst, nicht wahr?"
"Ja, nun. Was? Eine Kunde für mich, zehn für Wassili. Vielleicht." Ihm dämmerte, dass er das Pulver nur ganz langsam zu Geld machen konnte. Traurig schaute er seinen Schatz an. Mit der rechten Hand fuhr er an seine Nase. Den Zeigefinger legte er auf die Nasenspitze und der Daumen spielte mit kleinen Perlen an den Enden seines schwarzen Nasenpiercings. Er streichelte abwechselnd die rechte und die linke Perle. Zhou schaute belustigt zu.
"Du kannst es nur ganz langsam verkaufen. Wenn Du Glück hast, merken es deine Kunden nicht. Wenn Du Pech hast, spricht es sich herum, dass Du ganz billiges oder ganz tolles Zeug hast. Dann bist Du " Zhou fuhr sich mit der flachen Hand über die Kehle.
"In den Ausguss also. Oder in die Nase? Nimm Du das lieber. Verkauf es wie Du willst. Mir gibst halt etwas ab."
"Bei mir ist es doch dasselbe, wie bei Dir. Ich bekomme meine Waren von der Organisation und die verkaufe ich weiter. Wenn ich da weniger abnehme, trotzdem aber gleich viel verkaufe, werde ich gefragt, wie das sein kann. Dann muss ich das erklären. An meine normalen Kunden kann ich das gar nicht verkaufen. Nur so nebenher würde es schon gehen. So verteilt über ein oder zwei Jahr."
"Immer wenn Du etwas ..."
"Nein, nein, das mache ich nicht. Das wäre ja so wie Kommission. Du kommst dann immer mal vorbei und ... nein!"
"Gib mir halt einfach etwas"
Zhou schüttelte den Kopf. "Das kann ich nun wirklich nicht machen. Ich bin doch Geschäftsmann und muss alles was ich kaufe und verkaufe verbuchen. Das bin ich doch .. Wem erklär ich das eigentlich."
"Dann eben nicht". Der junge Mann griff nach dem Paket.
"Warte, warte. Da fällt mir etwas ein. Wir könnten doch tauschen?"
"Und was?"
"Ich habe eine Schwarze als Pfand bekommen. Seit gestern ist er überfällig. Und nun muss ich die irgendwie zu Geld machen. Wenn es eine Asiatin wäre, aber so? Also, die könnte ich Dir geben."
"Spinnst Du?"
"Irgendetwas muss ich Dir geben. Das da hat keinen Wert für Dich. Die Schwarze hat für mich keinen Wert. Das da wäre etwas für mich. Und eine Frau, die alles macht, für Dich. Bist Du interessiert?"
"Ich schlage keine Frauen. Nie. Die läuft mir nur weg."
"Mit der kommst Du schon klar. Die kommt ja richtig aus dem Urwald. Die glaubt, wenn Du ihrer Puppe etwas tust, dann passiert etwas mit ihrer Familie. Oder sie wird durch einen Geist verflucht, oder so. Ist ja auch egal. Die Macht liegt in einer Puppe. Wer die Puppe hat, der hat auch die Frau."
"Was kann die denn so? Strich? Putzen?"
"Angeblich alles. Aber sie passt einfach nicht zum chinesischen Geschäft. Ich könnte sie schon weitergeben, aber da muss ich dann wieder mit Fremden ins Geschäft kommen. Also? Tauschen wir?"
Er schaute auf die ausgestreckte Hand. Warum nicht? Zuhälter wollte er immer schon mal werden.

In seiner Wohnung angekommen, wollte er sofort seine Ware ausprobieren. Er ging die Diele durch bis zum Schlafzimmer. Die Schwarze zog ihren Anorak aus und hängte ihn an die Garderobe neben der Eingangstür. Als er sich umdrehte und "Komm schon!" befahl, war es um ihn geschehen. Er wusste es noch nicht, aber der Anblick ihres Gangs löste etwas in ihm aus. Es war ein altes Muster, das durch diese Bluse verstärkt wurde. Diese war vermutlich von einem Flohmarkt. Jedenfalls war sie nicht nicht modern, sondern eher eine Art Omabluse mit Rüschenknopfleiste und abgerundetem Kragen. Die Schwarze hatte alle Knöpfe geschlossen und füllte die Bluse vollständig im oberen und unteren Teil aus. Durch ihre schwarze Hautfarbe und ihren schwarzen Leggins wurde das Weiß der Bluse betont. Alleine das hätte ihn schon beeindrucken können, wenn er ein Ästhet gewesen wäre. Aber die Rüschenleiste und die kaum sichtbaren hellbraunen Längsstreifen auf der Bluse, die durch den animalischen Gang der Schwarzen so bewegt wurde, dass immer, wenn beide Füße den Boden berührten, die Bluse schmal wurde und nur, wenn das Becken und die Oberweite der Schwarzen frontal zu sehen waren, die Bluse in voller Breite erschien. Der Stoff der Bluse war in der Taille locker, oben und unten aber gespannt. Mit jedem Schritt wurde so seinem Hirnstamm signalisiert, dass hier eine mögliche Mutter seines noch nicht gezeugten Nachwuchses kam.
Als sie mit gesenktem Blick vor ihm stand, versuchte er sich zu fangen. Obwohl ihm schon schwante, dass er diesen Schatz niemals mehr freiwillig hergeben wollen würde, sagte er sich, dass sie nur eine Ware war, die es galt auszuprobieren.

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