Freitag, 19. September 2014

Solissimo

Wieder war der erste Schultag nach den Sommerferien. Wieder ging der Lehrer Müller zur Schule. Braungebrannt kam er aus den Ferien zurück. Leider war das Wetter früh morgens ein wenig zu kalt für T-Shirt oder Hawaii Hemd, aber die Ärmel der Sportjacke trug er hochgekrempelt. So waren die starken, leicht behaarten Unterarme zu sehen, und auch die goldenen Armbänder am rechten Handgelenk kamen so gut zur Geltung.



Auf dem Schulhof sah er vor sich einen hageren Herrn im Anzug mit einer hellblauen Baseballmütze. Diese Mütze, obwohl alt und abgerissen, war genau so unmöglich wie der Einkaufstrolley, den dieser Kollege hinter sich herzog. Es war wohl ein neuer Kollege, weil Väter würden ja mit Nachwuchs kommen und der Hausmeister wohnte in der Einliegerwohnung bei der Sporthalle. Das bewegte ihn nicht so wie der Einkaufstrolley. Normalerweise gehen Omas mit so etwas einkaufen. Wenn der jetzt schon so kraftlos ist, dass er so etwas braucht, dann wird das nichts mit einem gesunden Ruhestand, dachte er. Ohne zu grüssen passierte er ihn mit federndem Schritt.

In der großen Pause ging er wie immer ins Lehrerzimmer. Bevor er die Tür öffnete, atmete er tief ein und aus, dann ging es mit nicht unverkrampft wirkenden, nach oben weisenden Mundwinkeln hinein. Nach zwei Schritten in die Mitte des Zimmers blickte er sich um und gab ein lautes "Guten Morgen" von sich. Die Kollegen nickten ihm zu oder erwiderten den Gruß. Er wartete, bis einer fragte "Wie war der Urlaub?". Die schon bekannte Entgegnung "Zu kurz, wie immer" wurde mit dem üblichen Gelächter quittiert. Anschließend fand er seinen Platz am Tisch in der Fensternische, kramte seinen Schmöker hervor und schaute sich die Seiten an. Andere konnten in dem Zimmer arbeiten, aber er nicht. Damit nicht etwa jemand auf die Idee käme sich mit ihm zu unterhalten, tat er, als läse er.

Vor Jahren, als es seine Lebensgefährtin noch bei ihm ausgehalten hatte, war er umgänglicher gewesen. Bis zur Mid Life Crisis war alles in Ordnung, sie widmete sich den sozialen Gruppen im Stadtteil, er war der Lehrer, der sie unterstützte. Er fing dann an Sport zu treiben. Ein Fitnessstudio passte besser zu ihren chaotischen Stundenplänen als ein Verein mit festen Zeiten. Dann kam die Idee mit dem Marathon. Marathon muss sowieso allein gelaufen werden, warum also in einer Gruppe trainieren? Diszipliniert zog er die Trainingspläne durch und seine Freundin unterstützte ihn. Aber sein Ehrgeiz zwang ihn zu immer längeren Strecken bis hin zum Triathlon. Ihr wurde das auf ihn Warten zuviel. Sie hat dann sein Haus gegen eine Kommune auf Gomera eingetauscht. Er würde nur noch seine Sachen durchziehen, hatte sie ihm zum Abschied gesagt. Und wenn schon, er würde sich selbst genug sein, hatte er sich geschworen. Erfreut stellte er fest, dass sie durch ihre Flucht auf Unterhalt verzichtete, so dass noch Geld für Bordelle und gelegentliche Besuche in Thailand blieb.

Die schmale Lehrerin, die ihm schräg gegenüber Platz nahm, kannte diese Geschichte. Hoffnungen mit ihm ins Gespräch zu kommen hatte sie zwar nicht mehr. Sie bereitete sich auf ihre Stunden vor. Als Kurzsichtige hatte sie ihre Brille hoch geschoben und blätterte in ihren Unterlagen herum. Ab und zu pausierte sie aber, nahm die Brille herunter, schaute erst aus dem Fenster, dann, aus den Augenwinkeln, zu ihm herüber. Mal bewunderte sie seine dichten, weißen Haare und diesen Vollbart mit den weißen Locken. Eigentlich sah er ganz lustig aus, wenn er doch nur umgänglicher wäre! Dann schaute sie sich seine breite Brust an. Betont wurde diese durch das weit aufgeknöpfte Hemd, das nicht nur den Blick auf die goldene Panzerkette, sondern auch auf ein paar weiße Härchen freigab. Als sie sich bei dem Gedanken ertappte, dass sie diese Härchen gerne kraulen würde, schob sie ihre Brille wieder in ihre Frisur und widmete sich wieder ganz ihrer Vorbereitung. Dieses Zucken bemerkte, aber er lächelte nur ohne aufzublicken. Er war mittlerweile jüngeres gewohnt und mit den Thaimädchen konnte eine in die Jahre gekommen Lehrerin nie mithalten.

"Sie sind das Fräulein Niedermayr?" hörte sie sich angesprochen. Sie errötete und blickte erstaunt auf. Früher klang Fräulein mal gut, aber so wurde sie seit Jahren nicht mehr angeredet. "Habe ich ein Fettnäpfchen betreten?" fragte entschuldigend der hagere Mann mit der Vollglatze. Sofort erklärte er "Im Plan steht Frl. und das ist doch die Abkürzung von Fräulein und ich bin ja neu hier und ... " . Er bemerkte wie ihre Lippen zusammenpresste, nachdem sie ihre Brille auf die Nase klappte. Sofort streckte seine Hand aus und stellte sich vor "Entschuldigen Sie bitte. Ich bin der neue Kollege, Meyer, fange hier nun wieder mit Dienst an und unsere Gruppen sollen ja in diesen neumodischen Projekten zusammenarbeiten". An dieser Stelle mischte sich Herr Müller ein und fragte wo die blaue Baseballmütze geblieben sei. "Ach, das ist die Glücksmütze von meinem Sohn, nach der Chemo sind mir doch die Haare ausgefallen. Sie sieht doof aus, aber ich kann doch keine andere tragen" war die Erklärung, mit der anscheinend eine fürsorgliche Ader im Fräulein geweckt wurde. Lächelnd bot sie ihm den Stuhl neben ihr an und die beiden besprachen ihre Projekte. Die beiden wären ein passendes Paar, sagte sich Herr Müller. Vielleicht hätte dann dieses Anschmachten in der Pause auch einmal ein Ende.

Am nächsten Tag setzte er sich wieder in seine Ecke, holte den Schmöker heraus und schaute sich die Seiten an. Sie unterhielt sich mit ihrem neuen Kollegen in der Kaffeeecke über ihre gemeinsamen Projekte und nahm nicht schräg gegenüber Platz. Er las dann tatsächlich ein paar Seiten. Das Anschmachten einer in die Jahre gekommenen Lehrerin würde er nicht vermissen, dachte er.

Als sie ihn aber das ganze Jahr nicht mehr anschmachtete, und, selbst wenn sie sich doch noch auf dem Platz schräg gegenüber setzte, ihre Brille immer in der Frisur behielt, wurde das Loch mit jedem Tag ein wenig fühlbarer. Aber er konnte sich das nicht eingestehen. Statt dessen wurde er täglich ein wenig strenger zu seinen Schülern, doch an den Seiten seiner Mundwinkel zeigten sich senkrechte Falten. Es fiel ihm auch immer schwerer den Trainingsrhythmus bei zu behalten. Besuche im Bordell verlangten öfter als erwartet medikamentöse Hilfe.

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