Freitag, 14. April 2017

Für immer

"Hallo, da seid ihr ja", sagte er, als Sabines Eltern eintraten. Sie kamen mit Mundschutz und einem Arzt in die Station. So genau konnte er sie gar nicht erkennen, aber es konnten ja nur Sabines Eltern sein.
"Unser armes Ding", sagte die Mutter. Der Vater presste ihre Hand.
"Gehen Sie nur näher. Sie sollte sie hören und sehen können. Den Kopf bewegen und reden geht noch nicht, aber das wird auch schon noch wieder kommen. Es war ein Wunder, das sie nur gebrochene Knochen hat."
Die beiden kamen an das Bett. Ihn beachteten sie nicht. Vermutlich sahen sie ihn auch nicht. Wer sieht schon einen Geist?
"Hallo Sabine. Da sind wir endlich. Wie konntest Du nur mit diesem ...", die Mutter schüttelte ihren Kopf und weinte.
"Marie, das mit den Vorwürfen wollen wir doch besser lassen. Unsere Kleine lebt und wird das alles überstehen. Nicht wahr?" Der Vater blickte von Frau zu Tochter zu Arzt.
"Die Wirbelsäule hat wie durch ein Wunder nichts ab bekommen. Es sind nur Rippen, Gesicht und Becken gebrochen. Das sieht zwar alles recht technisch aus, aber eigentlich braucht sie das alles gar nicht. Atmen geht alleine, Nerven sind nicht abgeklemmt. Das wird vermutlich alles wieder. Sie ist ja genau auf ihren Begleiter gefallen. Für den konnten wir nichts mehr machen. Der war nach der Einlieferung schon. Und nun ja auch schon beerdigt."
"Sie weint", sagte die Mutter. "Mein Liebes, das wird schon wieder. Und ...", die Mutter streichelte die Wangen ihrer Tochter, "... er war schon ... so leichtsinnig aber auch. Wie konntet ihr nur?"
"Bei anderen Sportarten hätte das auch passieren können. Unfälle kommen vor. Und er hat sich wohl ...", der Vater war sachlich und kühl, "Welch eine Kontrolle und Umsicht dieser Mann noch gehabt haben muss. Es sei denn es war Zufall, dass er sich so unter dich gelegt hat, dass unsere Kleine das alles übersteht."
"Ich habe die Arme ausgebreitet, als wäre ich ein Vogel. Fliegen, fliegen an mehr habe ich nicht gedacht. Da bin ich dann also tatsächlich ein ganz klein wenig geflogen, so dass Du das überlebt hast. So ein Wundermann war ich gar nicht", erklärte er, ohne dass jemand ihn hörte. Nur Sabine schien zu lächeln. Sollte sie ihn hören können?
"Ich bleibe nun immer bei Dir, um Dich zu beschützen. Wenn ich schon ein Geist bin, kann ich auch Dein guter Geist sein. Was meinst Du?"
Konnte sie ihn wirklich sehen?
Als er wieder mit ihr alleine war, platzte es aus ihm heraus: "Ist doch gut gewesen, dass ich nicht mit den anderen Seelen zu dem Licht gegangen bin. Weißt Du das mit Seele und Körper stimmt nämlich tatsächlich. Nach dem Tod verlässt etwas einfach den Körper. Aber ich habe Dich nicht gesehen und da habe ich mir gedacht, dass Du immer noch lebst. Ohne Dich wollte ich nicht gehen. Und dann habe ich mich umgedreht und bin wieder zurück. Und das Du mich sogar ...", er stoppte, als sie einfach die Augen schloss und einschlief.

Sie konnte ihn also doch nicht hören. Schade dachte er. Aber sein Herz war gar nicht enttäuscht. Vielmehr spürte er es gar nicht, obwohl das ja schon einer von den Gedanken war, bei dem es drückte. Das Herz war ja gar nicht mehr da. Nichts klopfte, nichts zog sich schmerzend zusammen. Er wunderte sich, wie nüchtern er seine Einsamkeit und Isoliertheit feststellte. Vermutlich war das auch der Grund, weswegen die Leute mit ihren Nahtoderfahrungen immer von einem guten Gefühl erzählen. Das, was sonst schmerzt, spürten sie in dem Moment ja gar nicht.
Das würde dann aber langweilig werden, wenn er nun gar nichts mehr so richtig fühlen sollte. Irgendwie musste er herausfinden, ob seine Anwesenheit ihr etwas bedeutete. Und, wenn nicht? Dann wollte er bleiben und beobachten, wie es mit ihr weiter ginge. Wen würde sie als nächstes lieben? Bei diesem Gedanken schmerzte wieder kein störendes Herz. Bei der Vorstellung einen Fick zu beobachten, regte sich auch nichts. Wenn es langweilig werden sollte, konnte er ja immer noch zum Licht gehen. Obwohl, das war ja gar nicht mehr da.

Ein Zeitgefühl hatte er nicht mehr. Sabine bekam den Kopfverband abgenommen und konnte wieder sprechen. Am Abend flüsterte sie: "Martin, bist Du da?"
"Ja, Du wusstest also die ganze Zeit. Wie ...", weit kam er nicht.
"Ich weiß ja nicht, ob Du da bist", fuhr sie fort. "Aber irgendwie, es fühlt sich so an, als wenn ... Es ist nach dem Tod bestimmt nicht alles vorbei. Bestimmt nicht. Also Martin, alles Gute. Wo immer Du bist. Ich werde Dich nicht vergessen. Danke", hörte er sie sagen.
"Ich bleibe immer bei Dir und schaue was Du machst. Irgendwann stirbst Du auch und dann sind wir wieder zusammen", sagte er und sie schien als Antwort zu lächeln.
"Du fühlst tief drin schon, dass ich für immer Dein bin." Das sagte er zwar, aber fühlen konnte er es nicht.

Auf einmal war er ganz woanders. Dunkel war es. Sein Herzschlag spürte er wieder. Er erinnerte sich an die zahllosen Geburten, die er schon erlebt hatte. Es ist ja ein ewiger Kreislauf. Diesmal war er nicht zum Licht gegangen. Geändert hatte es wohl nichts, es ging wieder weiter. Welchen Körper würde er bekommen? Welches Geschlecht haben? Sabine? Sein Herz regte sich bei dem Gedanken. Das sollte er versuchen mitzunehmen. Das wäre eine Aufgabe vom alten für das neue Leben. Egal, was aus ihm wird. Er wird sie wiederfinden. Der Altersunterschied war nicht mehr so bedeutend, wie das früher war. Die Stadt und das Land durfte er nicht vergessen! Was für eine Mutter bekam er? Ihren Herzschlag konnte er gar nicht hören. Sein Herz klopfte einfach weiter. Warum hörte er das Muttertier nicht?

Es wurde enger. Obwohl er nicht viel größer geworden war, war es eng. Mittlerweile wusste er, das es ein Ei mit harte Schale war, in dem er gefangen war. Hände und Füße hatte er nicht.  Ihm stand ein Leben als Vogel bevor. Das mit dem Fliegen war genau das, was er im alten Leben als letztes, kurz bevor er starb, gedacht hatte. Trotzdem hatte Sabine immer noch nicht vergessen. Er würde sie suchen. Vögel sind frei!

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