Sonntag, 18. September 2016

Heimat

Langsam packte sie ihr Köfferchen. Sie war, wie immer, wenn etwas Wichtiges anstand, viel zu früh. Zunächst machte sie den Kulturbeutel fertig. Sie füllte ihn mit allem, was die Toilette hergab, dann entfernte sie die Haarpflegeartikel und die Seifen und Deos wieder. Es war nur noch die Zahnbürste, -seide und -pasta drinnen. Der Kulturbeutel wanderte neben den Koffer. Er sollte ja als erster entnommen werden können. Warum hatte sie überhaupt damit angefangen? Ihre Lippen pressten sich zusammen und zwischen ihren Augenbrauen war wieder diese Falte. Sie füllte das Köfferchen mit Nacht- und Unterwäsche. Dazu legte sie eine Jeans und zum Schluss den Kulturbeutel. Sie konnte das Köfferchen tragen. Das war gut. Auf dem Weg müsste sie den Rathausplatz überqueren und bei den Pflastersteinen würden die Rollen des Köfferchens nicht mitmachen.
An der Wohnungstür blieb sie dann doch stehen. Ihr Einkaufsroller stand in der Ecke. Diesen konnte sie über die Pflastersteine ziehen. Bot er genug Platz für ihre Sachen? Schnell räumte sie um und es passte alles herein, nur der dünne Kulturbeutel blieb übrig. Für diesen hatte sie ja noch ihre geräumige Handtasche. Das war auch für den Rückweg besser. Erleichtert ging sie zur Wohnungstür.
An der Garderobe galt es eine Jacke auszuwählen. Zwar das Wetter an diesem Tag im September noch recht warm, aber wie würde es in ein paar Wochen sein. Ihr Anorak war für solch ein Übergangswetter gedacht. Der könnte aber verloren gehen. Im Schrank hatte sie noch eine alte Trainingsjacke. Ob die noch passen würde?
Wenig später war sie in die gelbe Oberjacke eine altertümlichen Trainingsanzugs vor dem Spiegel. Der Reißverschluss ließ sich ganz nach oben ziehen. Sie hatte gar nicht groß zugenommen. Oder war der damals einfach zu groß gewesen?
Auf dem Weg zum Bahnhof erinnerte sie sich an die Turntruppe damals. Zwar gilt Turnen als Einzelsportart, aber die Turner sind ja immer eine Mannschaft und es wird gemeinsam trainiert. So war es auch bei ihr. Am Rhönrad war sie von keiner in ihrem Gau übertroffen. Der Name 'Gau' für Kreis war damals noch in Verwendung, schmunzelte sie.
Die Jacke war die Erinnerung an ihr letztes Turnfest. Hein, so hieß der Cheftrainer, hatte den Heini von dem Autohaus angesprochen, ob dieser nicht die Trainingsanzüge für den Sportverein sponsern wollte. Was hatten sie nicht über Heins Trainingsanzüge vom Heini gelacht. Hein war die Kurzform von Heinrich. Ihn durfte niemand Heini nennen! Heini war der Name von dem, den niemand so richtig kannte. Über den man sich lustig machen durfte, weil er eben nicht dazugehörte. Er hatte die Werkstatt neben der Kirche in der Mitte übernommen und wollte sich dort etwas aufbauen. Heins Kumpel baute eine Sportartikelhandlung auf und konnte Logos und Schriftzüge auf Trainingsanzüge sticken lassen. Und stand auf der gelben Jacke vorne etwas vom Autohaus und hinten "SV Senenfeld".
Die Anbiederung mit den Anzügen ging dann aber ziemlich daneben. Noch bevor sie wegzog, war die Werkstatt verlassen. So ist das eben in der Fremde, dachte sie. Ihr Jacke tröstete sie.

Am Bahnhof angekommen, bemerkte sie wie früh sie wieder war. Auf dem Vorplatz waren Flaschensammler unterwegs. Einer hatte ging mit einem Einkaufsroller, wie sie auch bei sich führte, von einem Papierkorb zun nächsten und durchsuchte diese. Sein Trainingsanzug war dunkelrot. Schnell ging sie in die Bahnhofshalle und direkt in das Kaffee. Sie holte sich einen Cappuccino, suchte sich einen freien Platz und hängte die Jacke über den Stuhl.

"Sag bloß Sie sind auch aus Senenfeld?" fragte eine Frauenstimme.
"Ja. Wer?" Sie kannte die Frau gar nicht, obwohl das noch so langer Zeit auch kein Wunder war.
"Wir müssen uns kennen. Das ist doch die Jacke, die dieser Heini von der Möckschen Autowerkstatt gestiftet hatte. Solch eine hatte ich damals auch bekommen. Was hast Du gemacht?"
"Rhönrad"
"Schwebebalken. Aber eher nur so mal versucht."
"Wilma?"
"ja, genau und Du, bist dann die, ach nee, nicht helfen. Ihr habt oben neben der Feuerwehr gewohnt und Du warst der Stolz des ganzen Vereins und bist dann mit diesem komischen Kerl abgehauen und einfach nicht wieder kommen. Jennie, jetzt weiß ich es wieder."
"Genau. Entschuldige bitte, das ..."
"Was denn? Muss ja die ganz große Liebe gewesen sein, dass Du einfach mir nichts dir nichts ab aus dem Kaff und in die Welt. So toll ist das da ja auch nicht. Wir sind da ja nun auch weg. Aber sag, wie geht es denn so?" Wilma bemerkte ihre feuchten Augen.
"Es ist so schön jemanden aus der Heimat zu treffen. Zunächst war ja alles toll mit dem Gino, aber dann. So sind sie eben, die Männer. Und dann war Papa gestorben und Mama bei Magdalene. Du warst ja gar nicht so schlecht auf dem Schwebebalken."
"Ich bin nicht so leicht herunter gefallen. Bin ich nämlich. Und habe da auch meinen Manni kennengelernt."
"Mannie? Wer?"
"Kein Turner. Das war der vom Malteserhilfsdienst. Das war im nächsten Jahr, als Du schon weg warst. Normalerweise konnte ich ja das Rad, aber irgendwie. Und der Sanitäter hat dann einfach nicht mehr von mir gelassen. Nun sind wir schon seit zwanzig Jahren zusammen. Die Tochter möchte hier studieren, da bin ich mal hergekommen. Die wissen ja heutzutage gar nicht, wie so eine Stadt eigentlich tickt. Und nun. Schön jemanden zu kennen, der sozusagen immer noch Verbindungen zur Heimat hat, wenn es auch nur auf einer alten Jacke steht. Gib mir mal Deine Handynummer."
Jennie zog ihr Handy heraus und las Wilma ihre Nummer vor. Diese tippte sie in ihres, es klingelte kurz bei Jennie.
"Richtige Nummer. Schön, dann können wir ..."
"Ich bin die nächsten Wochen in der Klinik."
"Oh, was Schlimmes?"
"Knoten, die vermutlich gutartig sind. Also die Ärzte sind sich da ziemlich einig. Aber so genau wissen die das gar nicht und dann könnte das schon mehr werden. Nur zwei Wochen haben sie gesagt. Und ..." Tränen kullerten über ihre Wangen.
"Wir halten doch zusammen." legte Wilma ihre Hand auf Jennies Schulter.

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