Freitag, 13. Mai 2016

Der SX-2999

"Kommen Sie mal, Frau Heidenreich"
Sieh an, kurz vor Schluss der Nachtschicht passierte noch etwas erfreuliches. Aufgeregt stürmte sie in das Zimmer des Chirurgen. Sein Anliegen entsprach allerdings nicht ihren Erwartungen:
"Sie haben doch die Schulung bzgl. des SX-2999 mitgemacht? Nicht wahr?"
"Das war doch schon sechs Monaten und bisher ..."
"Egal, wir brauchen Sie jetzt. Sonst ist ja niemand geschult. Sie müssen nun assistieren, es geht um eine Notoperation. In etwa zehn Minuten wird der Hubschrauber ankommen, bis dahin muss die OP vorbereitet sein. Sie übernehmen den SX-2999."
Sie schluckte.
"Freuen Sie sich nicht? Jetzt kommen wir mal zusammen. Beruflich! Haben Sie da nicht drauf gewartet."
War es ein spöttisches oder freundliches Lächeln?
"Außerdem haben Sie so Gelegenheit ihr Wissen anzuwenden. Obwohl für weitere Pluspunkte in ihrer Personalakte bestimmt kein Platz mehr ist."
Die Schmeichelei gefiel ihr. Er war einfach nur freundlich! Sie nickte zustimmend.
"Sehen Sie! Wir sind bestimmt ein tolles Team"
Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm. Unterwegs versuchte sie sich zu erinnern, was ihr Sabine über den SX-2999 erzählt hatte. Die Überwachung war genauso lässig wie beim SX-2100. Sie könnte ihm zusehen. Warum es wohl überhaupt einen 2999 gab?
Im OP-Saal stand das Gerät in der Ecke. Die Anzeige war gewohnt, nur die Meldung "Kalibrieren!" störte ein wenig. Vom 2100 wusste sie wie das ging und so machte sie sich an die Arbeit. Mit den Plus und Minusknöpfen galt es den Druck so einzustellen, dass die Anzeige zwischen den Zielwerten lag. Mit einem SX-2100 war das in ein paar Minuten erledigt. Danach wäre nur noch zu überwachen.
Diesmal dauerte es.
Das drängende "Können wir?" des Chirurgen trug nicht dazu bei die Kalibrierung zu beschleunigen. Der Patient lag in der Mitte, alle warteten auf ihr OK. Es waren nur Minuten, aber sie kamen ihr vor wie Stunden, bis sie das OK geben konnte. Sie sah dem Team zu. Zunächst plauderten sie entspannt, aber dann brach eine Hektik aus. Es kamen Bemerkungen wie "Was ist denn da nun los ...", "Au, da brauchen wir aber ..." und "Mist". Erschrocken kontrollierte sie die Anzeige und stellte sofort wieder den Druck ein. Ihr Blut pochte durch ihre Adern. Als sie dann "Puh" und "So gerade noch" hörte, schloss sie ihre Augenlider, atmete ein und sah dann nach oben.
"Danke" flüsterte sie.
"Was ist denn mit Dir los? War wieder viel los?" fragte Sabine in der Umkleide.
"Ich hatte eine Notoperation und durfte den SX-2999 bedienen. Das war..."
"Und? Der geht doch voll automatisch. Anschließen und nicht schlafen."
"Wenn der eingestellt ist, vielleicht. Aber so. Du glaubst gar nicht ..."
"Automatisch?"
"Bitte?"
"Da drückst Du doch einfach auf den Knopf rechts unten an der Anzeige, wartest ein paar Minuten und c'est tout". Sabine konnte französisch vor allem, wenn sie einfach nur Recht hatte.
"Mist!"
"Hast Du vergessen? Das war doch der große Knaller bei der Schulung." Sabine riss die Augen auf. "Scheiße, ich habe ja für Dich an dem Tag. ... Es ist aber doch gut gegangen, oder?"
"So mit Ach und Krach. Ich war die ganze Zeit an den Reglern. Dr. Renzi hat das das noch alles hin bekommen. Wie herzlich er sich am Ende gefreut hat. Er ist wirklich ..." Sie strahlte.
"Na, entwickelt sich da was. Der bleibt aber nicht lange bei einer." Sabine knöpfte sich ihren Kittel zu.

"Noch eine Zigarette, auf den Schichtwechsel?" schlug sie vor. Die beiden gingen schweigsam vor das Gebäude.
"Wie der operiert, das hat wirklich Stil. Eine richtige Plaudertasche ist er am Operationstisch. So elegant und gar nicht hektisch. Auch wenn es mal ernst wurde. Er ist wirkliche eine Wucht." Sie zog an ihrer Zigarette.
"Warst Du nun 'puh' bei den Reglern? oder 'boa' bei ihm?"
"Doch nicht die ganze Zeit, nur wenn die heraus liefen."
"Versteh mich nicht falsch. Der 2999 ist entweder pflegeleicht oder er braucht Dich ganz. Und jetzt, erzähl mal, was hast Du nach dem Einstellen gemacht?"
Sabine konnte richtig ernst schauen.
"Nichts, weiter. OK gegeben und ihm zugesehen." Sie wusste nicht so richtig, was das nun sollte.
"Aber dann musste ich an den Knöpfen drehen, weil der Druck irgendwie nicht geregelt war. Das habe ich dann eben eingestellt und mit gefiebert."
Sabine zog an ihrer Zigarette, schaute sie an und blies den Rauch nach unten.
"Es ist nur, dass, wenn Du nicht die Einstellung nicht automatisch gemacht hast, dann musst Du noch den Regelbetrieb einschalten. Sonst bleibst Du beim Handbetrieb. Dann musst Du immer die Anzeige kontrollieren. Der Druck ändert sich sonst wie die Operation verläuft. Da hast Du doch keine Augen für den Dr. Dann. ... Auweia."
Sie begriff langsam.
"Echt? Warum bauen die solche Geräte. Also beim 2100 geht einstellen, wenn es ... Und nun immer so halb automatisch. Aber sie ist doch gut verlaufen die Operation. Jedenfalls hat er das so gesagt. Wie herzlich ... Stell Dir vor ..."
"Nee, nee Kleine. Ob die Operation gut war, wissen wir doch erst, wenn der Patient sie heil überlebt hat. Der kann doch einfach liegen bleiben. Ein wenig zu viel oder zu wenig Druck und dem ist dann etwas geplatzt oder zusammengefallen. Das kann alle möglichen Auswirkungen haben."
Ihr traten Tränen in die Augen.
"Warum musstest Du auch für mich unterschreiben?"
"Wenn Du wiederholt hättest, hätten wir doch die Fahrt zum Plattensee nicht machen können. Es war doch so abgemacht. Und Du hast doch auch zugestimmt! Es darf einfach nicht heraus kommen."
Die Freundinnen schauten sich erschrocken an. Fast gleichzeitig sagten sie: "Also ich sag nichts."
Sie rauchten schweigend zu Ende.

Sie konnte nicht einfach nach Hause gehen. Vorher musste sie auf der Intensivstation nachsehen, wie es um den Patienten stand. Er konnte noch gar nicht aufgewacht sein. Trotzdem lies es sie nicht los.

Es war ruhig auf der Station. Von einer Station voller Pflegefälle war das nicht anders zu erwarten. Er lag im dritten Zimmer. Sie schaute sich, wie er im Bett an. Sein Puls war ruhig. Beatmet wurde er nicht. Aus dem Tropf wurde ihm Blutplasma zugeführt.
Sie hörte nicht, wie Dr. Renzi hinein kam. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte sie.
"Der wird schon wieder. Machen Sie sich da keinen Kopf. Sie haben das super gemacht, Frau Heidenreich."
Sie seufzte.
"So am Ende der Schicht und dann noch die neue Maschine. Ich habe da zu lange gebraucht, mit der Einstellung. Das habe ich ..."
"wirklich gut abgerufen. Immerhin war es das erste Mal nach ihrer Schulung. Unvorbereitet. Sie waren am Ende der Schicht, topfit und hoch konzentriert, als es drauf an kam. Anders habe ich es gar nicht erwartet. Danke!"
Er drehte sie zu sich, lächelte und befahl ihr: "Feiermorgen, gehen Sie sich ausruhen."

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