Freitag, 14. August 2015

HIER

Seine Glatze legte ein eher ruhiges Auftreten nahe, aber er war im Gegenteil unstet und unruhig. Er ging nicht zu den anderen Wartenden an den Enden der U-Bahnhaltestelle, sondern zu den grauen Säulen in der Mitte. Mit seinen kräftigen Armen klopfte er gegen die Aluminiumverkleidung dieser Säulen. Der dumpfe Klang zauberte ein breites Grinsen in seinen schwarzen Vollbart. Er war sich sicher, dass er es bis zum "HIER" schaffte und schlug die Hände erst vorne dann auch hinten zusammen. Sein Kopf nickte entschieden. Noch einmal machte er ein "Klopf" gefolgt von "Klatsch" und "Klatsch". Danach kuschelte er sich an eine Säule und wartete auf die U-Bahn.
Als die Bahn kam, schaute er in den fast menschenleeren Waggon. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte, die Lippen kniffen sich zusammen. Schnell lief er zum Ende des Zuges und stieg mit anderen Fahrgästen ein. In diesem Waggon waren alle Sitzbänke mehr oder weniger besetzt. Es standen sogar Fahrgäste in den Eingangsbereichen. Diese waren noch durch Glaswände von den eigentlichen Sitzbänken getrennt. An einer dieser Wände stand nur ein Mann, der genauso groß war wie er. Ohne zu grüssen, stellte er sich daneben und fuhr die paar Stationen bis zum Hauptbahnhof mit.

Am Hauptbahnhof stieg er aus. Mit einem Pulk von Fahrgästen nahm er die Rolltreppe nach oben. Auf dem Weg nach oben machte sich ein Druck im Unterleib bemerkbar. Er verzog wieder das Gesicht und schaute sich suchend um. Dann hatte er das Schild gesehen, in einem Nebengang waren die Toiletten. Niemand war in dem Gang. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, als er schwer atmete und anfing zu schwitzen. Er drückte sich ganz nah an die Wand des Ganges und blieb stehen. Mit geschlossenen Augen holte er tief Luft. Nach ein paar Atemzüge wurde er ruhiger und konnte die Toilettentür erreichen. In der Toilette benutzte er die erste Kabine. Er klappte den Deckel hoch, öffnete seinen Hosenschlitz und versuchte zu urinieren. Es kam zunächst nichts. Mit dem rechten Fuss trommelte er auf den Boden, die Lippen zusammengekniffen und die Augen nach oben gerichtet. Dann kam ein ganz klein wenig heraus. Mit ein "pff" begutachtete er die Verfärbung des Toilettenwassers. Traurig packte er sein Ding zurück, schloss die Hose und spülte. Ohne sich zu Waschen verliess er die Toilette. An der Wand des Ganges schlich er zurück zum Hauptgang. Dieser war verwaist und leer. Schnell huschte er zum Kiosk und schaute dort nach den Ansichtskarten.

Nach ein paar Minuten kam wieder eine Bahn. Die Rolltreppe bewegte sich wieder. Er stellte die Karte wieder zurück in die Trommel. Mit den ersten Anzugträgern nahm er die Rolltreppe zur Fußgängerzone. Sie gingen in Richtung deutsche Bank. Er folgte ihnen bis kurz vor den Eingang, dann schloss er sich einer Gruppe Verkäuferinnen auf dem Weg zum Karstadt an. So ging er zwar nicht den geraden Weg zum Stadtpark, aber den ihm angenehmen Weg.

Am Eingang des Parks war er zwar wieder alleine, aber der enge Weg war eingefasst von friedlichen Bäumen und so ging er furchtlos weiter bis zur weiten Allee. Hier fingen die eigentlichen Herausforderungen an. In der Mitte dieser Allee sollte er gehen. Meistens tat er das und nur manchmal suchte er Schutz bei einem Baum. Bis zum Ende der Allee suchte er nur dreimal Schutz. Das erste Mal konnte er unterdrücken, da machte er nur ein, oder zwei Schritte zur Seite. War aber sofort wieder in der Mitte! Der erste der drei Bäume war eine Platane. Jedenfalls blätterte die Rinde ab. Es musste eine Platane sein. Bei den anderen beiden war er nicht sicher. Der erste könnte eine Kastanie gewesen sein, jedenfalls lag darunter, in den Boden getreten, eine solche herum. Der letzte war eine Buche, weil die gibt es ja in jedem Park. Aber genug! Am Ende der Allee war die Wiese. Gemäht und offen war sie da. Er atmete tief ein und dann setzte er einen Schritt vor dem anderen. Wie ein Roboter ging er genau in die Mitte. Dort wo die graue Steinplatte lag. In weißen Lettern hatte jemand "HIER" dort eingelassen. Irgendein Kunstprojekt war das wohl gewesen. Egal! Er stellte sich darauf und schaute sich um. Es war niemand auf der Wiese. Niemand war dort! In keiner Richtung war jemand. Er rief "hier" und klatsche seine Hände vorne und hinten zusammen. Dann war es vorbei. Vorher lachte er noch, aber dann wurden seine Knie weich. Er kauerte sich zusammen, schlang die Arme um seine Unterschenkel, legte den Kopf auf die Knie und genoss das Gefühl des Rucksacks an seinem Rücken. Er weinte.

Wenig später hörte er ein "Bravo" und dann spürte er eine Hand auf seiner Kopfhaut. "Das war schon sehr gut Robbi" hörte er, als er aufblickte. Es war seine therapierende Freundin. Oder auch seine befreundete Therapeutin. "Jetzt wir ganz genau über deine Gefühle reden, die Du gehabt hast. So genau wie möglich." Sie setzte sich neben ihm. "Aber zunächst ..." da waren ihre Lippen schon auf seinen.

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