Freitag, 21. August 2015

Graugänse

Am Abend vor der Heimreise wollte er nicht früh schlafen gehen. So griff er sein Handtäschchen, nahm den Fahrstuhl in das Erdgeschoss und suchte die Hotelbar auf. Diese war, wie sich das für die Klasse gehörte, recht gut besucht. Tatsächlich war aber noch ein Tischchen an der Fensterseite frei. Dort konnte er auch den Blick auf den Teich geniessen. Er bestellte sich einen "long island ice tea", deutete auf das Tischchen und nahm dort Platz. Aus seinem Täschchen holte er ein Tablet und eine Lesebrille. Wenig später vertiefte er sich in den Fotos seiner Beute. Kurz nickte er als eine Frau fragte, ob noch ein Platz frei wäre. Von ihrem Monolog mit einem Anrufbeantworter bekam er nur den Schluss mit:
"Also dann wünsche ich Dir noch einmal eine gute Nacht, ich gehe dann jetzt ins Bett. Morgen früh muss ich total früh heraus und danach ... schreibe mir doch eine eMail, weil Telefon geht gar nicht. Vermutlich hörst Du das ja erst am Morgen ab, dann wünsch ich Dir einen guten Morgen." Die Frau verstaute ihr Smartphone in ihre Handtasche, nahm einen Schluck aus ihrem Cocktailglas und schaute zu ihm herüber. Er merkte den Blick und schaute auf.
"Sie sind bestimmt Fotograf, bei so vielen Fotos.. " fragte sie ihn lächelnd.
"Ornithologe" gab er grimmig zurück.
"Ach, dann sind ja jemand, der sich mit vögeln auskennt?" in sein verblüfftes Schweigen sagte sie glucksend "Der ist alt, ich weiß"
Er war immer noch sprachlos. Seine hängenden Mundwinkel und der ernste Gesichtsausdruck erschraken sie. Sie zog ihren Kopf zurück und entschuldigte sich: "Ich wollte Ihnen nicht zu Nahe treten. Sie sind der erste Vogelkundler, den ich .." Seine Augen trafen sich in ihren braunen Augen. "Es ist so selten .. " Sie wanderten zu ihrem Hals, der durch ihren Pferdeschwanz nicht unter Locken versteckt wurde. "Also ..." Sie bekam einen rötlichen Ausschlag an ihrem Hals, während seine Augen in ihren zugeknöpften Ausschnitt wanderten " ... Äh. Stehen Sie wirklich in aller Frühe auf und schauen nach Vögeln?"
Mit weit geöffneten Augen und hochgezogenen Mundwinkeln antwortete er: "Ich muss mich entschuldigen. Eine Woche sind wir in aller Frühe aufgestanden und haben Fotopirsch gemacht. Gerade war ich vertieft in den Ergebnissen." Ihre Augen trafen sich wieder und es gab eine winzig kleine Pause, die er beendet, in dem er einen smalltalk über das Hotel, die Stadt und die Jahreszeit anfing. Sie ging freundlich mit und es stellte sich heraus, dass es seine letzte und ihre erste Übernachtung in dem Hotel war. Am nächsten Tag würde ein Kongress über Geschlechterrollen und Emanzipation anfangen. Als Gleichstellungsbeauftragte einer Finanzverwaltung war es ihre Pflicht dort teilzunehmen. Ihre Teilnahme war aber erst spät bewilligt worden, so dass sie nun hier in diesem Hotel am Stadtrand untergekommen war. Wie unterhaltsam sich dieser Abend doch entwickelte! Sie lauschte interessiert seinen Ausführungen über die immer im Herbst anwesenden Populationen von Zugvögeln auf dem Weg nach Nordafrika. Nur eine Stunde vom Hotel entfernt, in der Seenplatte konnte diese beobachtet werden. Gemeinsam mit der örtlichen Gruppe der Vogelfreunde war er und auch andere Vogelenthusiasten aus ganz Deutschland die letzte Woche jeden Morgen in aller Früh aufgebrochen und hatten fotographiert und Exemplare gezählt. Im Gegenzug hörte er dann etwas über sexualisiertes Verhalten in den wöchentlichen Abteilungsbesprechungen. Hier galt es dann Hierarchien auszukämpfen und Unterwerfung zu fordern. Die Rollen hierbei waren in der Regel nach Geschlechtern verteilt und dem galt es entgegenzuwirken!

Als sie kurz für "kleine Mädchen" verschwand, nahm er aus seinem Täschchen das Smartphone und vergewisserte sich, das es im Flugmodus war. Beim Blick auf die kleine Schachtel ganz unten im Täschchen fragte er sich, ob es für Kondome eine Mindesthaltbarkeit gäbe. Grinsend legte er das Täschchen wieder zurück und schaute auf das Geschehen vor dem Fenster. In den Augenwinkeln sah er sie zurückkommen, drehte sich aber erst nach ihr um, als sie schon saß. Sie hatte die Haare nun offen. Seine Augen suchten ihren in Locken verschwunden Hals, während ihre Augen blitzten in ihren Ausführungen vom Aufweichen der Geschlechterrollen. Dabei wickelte sie ihre Haarsträhnen um den linken Zeigefinger. Er fühlte sich erregt und seine Augen wanderten kurz zum Delfinanhänger, den sie zwischen ihren Brüsten freigab. Ihr Hemd war nicht mehr bis zum Halsansatz zugeknöpft. Ihm kam es irgendwie nuttig vor. Seine Augen wanderten schnell in ihre braunen Augen. Diese waren immer noch hübsch, aber ihre Pupillen verengten sich. Ihre Ausführungen wandten sich den freizügigen Vögeln zu, die immerzu vögeln würden. Dabei hielt sie den Kopf schräg. Wie ihre Zähne zu den Augen blitzten! Ihre Pupillen weiteten sich wieder. Ihre Lippen schienen ein wenig voller zu wirken. Seine Augen suchten ihren Hals und fanden den Delfinanhänger. Zwischen ihren Brüsten! Er schüttelte den Kopf und dozierte dann: "Das Vögel ausnahmslos frei herum vögeln ist einfach eine Legende. Es liegt an den Tauben, die sehen wir ja überall, die offensichtlich herum vögeln, wo immer sie können. Aber denken Sie nicht, das für alle gilt." Seine Augen fanden ihre braunen Augen. Ihre Pupillen verengten sich, als sie sich trafen. "Singvögel sind sich treu, so lange sie die Jungen betreuen. Und auch Enten! Jedenfalls wenn sie in einer natürlichen Umgebung leben. Und nicht in überbevölkerten Teichen leben müssen. Dann degeneriert alles! Und Erpel vergewaltigen zu mehreren eine Ente. Das ist doch einfach widerlich. Aber die Graugänse, die sind sich treu bis zum Schluss. Gemeinsam gehen sie auf Wanderschaft. Jedes Jahr bauen sie ein Nest. Und wenn eines stirbt, bleibt das andere alleine. So muss das sein. So ist das einfach richtig"
Er trank sein Glas aus, stand auf, füllte sein Täschchen und verließ die Bar.

Wenig später fand sich der Graugänserich in seinem Zimmer wieder. Er sass auf dem Bett und holte aus dem Täschchen das Smartphone heraus. Er schaltete den Flugmodus aus und betrachtete das Hintergrundbild. Es zeigte eine Frau mit braunen Augen und einem ausgesprochen schönen Hals. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und das Hemd bis auf den obersten Knopf zugeknöpft. Daneben hatte er die zwei Kinder montiert.
Er lächelte und bemerkte, dass eine Sprachnachricht angekommen war. Seine Frau teilte ihm mit, dass sie ihm einen guten Abend oder besser einen guten Morgen wünschte. Sie wäre nicht telefonisch zu erreichen, sondern nur per eMail.

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