Freitag, 14. November 2014

Krippenkind

Emil hielt sich an der Stange fest. Kaum war sein Vater eingestiegen, griff das Söhnchen schon nach dem Rohr an der Abtrennung. Wie kräftig solche Würmchen doch zugreifen können! Der Vater lächelte sein Kind an, dann würden sie wohl nicht auf einer Bank sitzen. Da setzte sich schon die U-Bahn ruckartig in Bewegung und zwang den Vater zu einem Ausfallschritt. Zum Glück war das Söhnchen im Tragesack! Sorgfältig löste er den Griff vom Sohn, ging zur Haltestange in der Mitte und fixierte hier seinen Stand. Er atmete leicht hörbar aus und schaute sich stolz in der U-Bahn um. Die Blicke, die er erntete, färbten seine Backen leicht rötlich und er schaute danach nur noch zu seinem Söhnchen. Nach zwei Stationen stiegen sie aus.


"Hallo, Sie sind der Vater mit Emil?", wurde er in der Krippe begrüsst. 
"Tag auch. Bin ich etwa der einzige Vater, der sein Kind hier abgibt?", fragte er lächelnd.
"Sie sind doch der Herr Müller, der hier einen kleinen Emil abgeben will? Die anderen Herren kenne ich doch schon. Und so viel freie Plätze haben wir auch nicht." Die Erzieherin nahm ihm dabei den Kleinen ab. "Der ist aber schon ganz schön schwer, haben Sie auch alles mitgebracht?" 
Er gab ihr die weiße Tasche. "Hier sind die Windeln und die Wechselwäsche. Er hat keine besondere Diät, geben Sie ihm das normale. Es ist aber noch sein Lieblingstier dabei." wies er auf die kleine, gelbe Ente hin. "Die darf nie zu weit von ihm weg sein" erklärte er.
"Ok, das machen wir schon.", mit Emil auf dem Arm schaute sie ihn an und wartete. Er beobachtete, wie sein Sohn keinerlei Angst vor dieser stämmigen, blonden Frau hatte. 
"Also, ich gehe dann", sagte er leise, die Erzieherin nickte kurz, wies ihm die Tür und drehte sich mit dem Kleinen um.
Langsam drehte er sich um und ging wieder zur U-Bahn.

In der U-Bahn wollte er sich seinem Smartphone widmen, aber hinter ihm störte eine Frau. 
"Hallo, hier", winkte sie ihrer gerade eingestiegenen Freundin zu. Diese kam hinzu und er kniff kurz die Lippen zusammen. Danach schaute er mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf das Display. Sein Kopf hob sich bei "Wie geht es deiner Kleinen denn in der Krippe?". Das Smartphone kam langsam auf seinem Schoß zur Ruhe.
"Heute ganz gut. Im Moment geht ja nichts mehr um. Die holen sich ja alles, hat eines einen Dünnpfiff, haben das alle. Und der Schnupfen ging ja erst vorbei." Er schaute ins Leere und sein Unterkiefer war auf einmal richtig schwer.
"Als Mutter musst Du da durch. Wir überlegen ja noch. Aber so ein Kind ist doch was"
"Hoffentlich wird das noch. In dem Kleinkindalter bist Du 25 Stunden am Tag wach, schaffen und Sorgen machen. Deswegen unternehmen wir auch nichts mehr am Wochenende. Da ist nur noch schlafen angesagt, so ein paar Stunden am Stück wenigstens"
"Wie haltet Ihr das nur aus?"
"Tja, Klausi liegt mir in den Ohren doch mit dem Job aufzuhören. Unterm Strich würde ich ja nur für Krippe, Ticket und Kantinenessen arbeiten. Hat nicht ganz unrecht mit"
"Du kannst doch nicht Pause machen ...". An dieser Stelle stand er abrupt auf und stieg durch die sich schon schließenden Türen aus der U-Bahn.

"Und? Wie waren die zwei Monate Kinderurlaub?", begrüsste ihn der alte Martin.
"Hallo. Das war kein Urlaub, das war Schwerstarbeit.", sichtlich erschöpft setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein.
"Wie, heute gibt es doch Wegwerfwindeln und Fertigbreis. Hätte nicht gedacht, dass Du so ein Öko bist" 
"Das ist es nicht. Der Kleine will immer etwas und da kannst Du gar nicht anders und musst mit ihm spielen. Oder aufpassen, dass nichts passiert. Und wenn Du mal etwas machen willst. Immer hat er etwas. Das ist schlimmer wie hier. Hier gibt es noch einen Betriebsrat, aber der kleine, nee", er schüttelte mit dem Kopf und tippte etwas in die Tastatur.
Der ältere zuckte nur mit den Schultern und die beiden schauten die Bildschirme an und tippten gelegentlich in ihre Tasten. Dann las er die E-Mail.
"Was heißt das? Von uns wird jeder Dritte umgesetzt?" 
"Bist Du schon da angekommen. Wir haben mal wieder Konzernumbau. Aber als voll schaffender Vater warst Du wohl ein wenig abgehängt. Mach Dir man keine Sorgen, als arbeitender Vater eines Kleinkinds passiert Dir ja sowieso nichts. Frag lieber mal den Erwin." erklärte ihm Martin.
"Wie Erwin? Der ist doch sein Leben lang hier. Das geht doch nicht", mit großen Augen schaute er Martin an.
"Erwins Kinder wohnen ja nicht mehr bei ihnen und Erwin ist noch keine 50. Deswegen darf er wählen zwischen Abfindung oder Umsiedlung nach Bielefeld" 
"Wir sind aber doch knapp besetzt. Und Du gehst doch in drei Jahren. Was dann?", er schüttelte den Kopf.
"Habe ich ihm auch schon vorgeschlagen, einfach eine lange Reise machen und in drei Jahren hier wieder aufschlagen. Fand er gar nicht lustig." lachte Martin.

"Da sind Sie ja wieder, ihr Emil ist ja ein wirklich liebes Kind", begrüsste ihn die stämmige, blonde Erzieherin in der Krippe. Während sie den Kleinen holte, schnallte er sich den Tragesack um. Da kamen die beiden auch schon zurück, das Söhnchen schaute ihn fröhlich an. 
"Emil, hallo, da bin ich ja wieder" küssend nahm er den Kleinen in Empfang und setzte ihn vorsichtig in den Sack. "War wirklich alles in Ordnung?", vergewisserte er sich. 
"Wenn wir doch nur immer so liebe Kinder hätten", sie reichte ihm die weiße Tasche. Er schaute schnell hinein, "Wo ist denn seine Ente?" 
"Die müsste dort unten liegen, er hat sie gar nicht vermisst." Auf seinen erstaunten Blick kam noch ein "War wohl alles viel zu interessant", gepaart mit einem Lächeln. Zum Abschied nickte er kurz und winkte mit Emils Hand der Erzieherin zu. 

In der U-Bahn sass er sich dann mit seinem im Tragesack schlafenden Sohn auf eine Sitzbank. Neben ihnen hatte er die weiße Tasche gelegt. Aus dieser wühlte er nach einiger Zeit die gelbe Ente. Er drückte sie solange, bis das Plastik leicht anbrach, dann legte er sie wieder in die Tasche.

Zu Hause angekommen kümmerte sich seine Frau um Emil und er entspannte sich vor dem Fernseher. Nach einer Weile fing Emil an zu weinen und forderte seine gelbe Ente. Seine Frau schrie: "Wie konnte das denn passieren? Der schläft doch nun nicht"
"Das muss in Krippe passiert sein, das kommt halt vor." log er. "Nehmen wir ihn zu uns ins Bett, das geht schon". Tatsächlich schlief der Kleine nach einigem Geschmuse ein und die Eltern lächelten sich erschöpft an.
"Also das mit der Krippe ist doch doof. Einer von uns muss bei ihm bleiben, das ist für ihn doch viel besser", schlug er vor.
"Ich nicht!", protestierte sie.

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